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EU-Schätzverfahren zum Produktionspotenzial sehr revisionsanfällig

Flags in front of the European Parliament in Strasbourg.

Die Ergebnisse des von der Europäischen Union (EU) verwendeten Schätzverfahrens zur Ermittlung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten (Produktionspotenzial) und der gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsauslastung (Produktionslücke) müssen im Nachhinein oftmals kräftig revidiert werden. Ursächlich sind hierfür insbesondere Prognosefehler bei der Abschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung. Auch reagieren die Ergebnisse sehr sensitiv auf die notwendigerweise zu treffenden Annahmen, deren Zustandekommen aber nicht ausreichend transparent gemacht und begründet wird.

Zu diesem Schluss kommen Forscher des Prognosezentrums am Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) und der Universität Kiel in einem Gutachten für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, das jetzt in der IfW-Schriftenreihe Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik unter dem Titel „Schätzung von Produktionspotenzial und -lücke: Eine Analyse des EU-Verfahrens und mögliche Verbesserungen“ veröffentlicht wurde.
 
„Der Auslastungsgrad der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten ist der Dreh- und Angelpunkt für die Konjunkturdiagnose. Hierauf bauen wiederum Fiskalregeln und die Geldpolitik auf. Allerdings lässt sich der Auslastungsgrad nicht direkt beobachten, sondern muss mit Hilfe statistischer Methoden geschätzt werden. Die weitreichenden wirtschaftspolitischen Folgen, die von der Potenzialschätzung ausgehen, erfordern eine regelmäßige Evaluation der Methodik und eine kontinuierliche Suche nach Verbesserungen“, sagte der Leiter des IfW-Prognosezentrums, Stefan Kooths.

Deutliche Revisionen für Italien und Spanien

Die Studie hat gezeigt, dass die nach dem EU-Verfahren bestimmte Produktionslücke oftmals im Nachhinein deutlich revidiert werden muss, und zwar für Rezessionsphasen nach unten und für Boomphasen nach oben. Insbesondere werden durch das Schätzverfahren für eine gegenwärtige Zeitperiode kaum merklich positive Werte ausgewiesen, auch wenn diese in der Rückbetrachtung auftraten. „Eine konjunkturelle Überauslastung wird also in Echtzeit selten in vollem Umfang erkannt“, so Kooths.

Besonders deutlich zeigt sich die Revisionsanfälligkeit des Verfahrens am Beispiel Italiens und Spaniens. Die Produktionslücken wurden von der EU für den Zeitraum vor der Finanzkrise von zunächst negativen Werten auf nunmehr teilweise über +3 Prozent in Relation zum Produktionspotenzial angehoben. Auch die während der Krisenjahre zunächst ausgewiesenen Produktionslücken mussten nachträglich um mehrere Prozentpunkte korrigiert werden. Bei beiden Ländern gingen die Revisionen der Produktionslücke auch mit einer merklich veränderten Einschätzung darüber einher, welcher Anteil der Erwerbslosenquote konjunkturell, und welcher Teil strukturell bedingt ist; die strukturelle Erwerbslosigkeit wird im Nachhinein nun deutlich höher eingeschätzt. Für Deutschland sind die Revisionen des Potenzialpfades insgesamt moderat, auch wenn die im Jahr 2007 für die darauffolgenden Jahre prognostizierten Potenzialraten im Nachhinein merklich nach unten angepasst wurden.

Hauptursache für Revisionen bei der Produktionslücke sind Prognosefehler bei der Abschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung, so die Forscher. Sie empfehlen daher unter anderem die Implementierung eines aus zusätzlichen Indikatoren gebildeten Konjunkturfaktors, um verbesserte Informationen über den Konjunkturzyklus in die Schätzung einfließen zu lassen. „Ein solcher Konjunkturfaktor ließe sich konzeptionell problemlos in das bestehende Verfahren integrieren. Der dann etwas erhöhten Komplexität des Verfahrens steht eine teilweise deutlich verminderte Revisionsanfälligkeit der Schätzung gegenüber“, so Kooths.

Politische Glaubwürdigkeit des EU-Verfahrens droht zu leiden

Die Forscher stellen außerdem fest, dass die Potenzialschätzung zwar notwendigerweise auf verschiedenen Annahmen beruhen muss, insbesondere bei der Bestimmung wichtiger Komponenten wie der Produktivität und dem Trend der Erwerbslosenquote. Die Forscher bemängeln aber die Setzung bzw. Änderungen bei den Annahmen seitens der EU-Kommission als wenig transparent und unzureichend begründet.

„Dadurch droht die politische Glaubwürdigkeit des EU-Verfahrens zu leiden, weil durch entsprechende Annahmen fast jedes gewünschte Ergebnis produziert werden könnte, auch wenn das gar nicht beabsichtigt sein sollte“, so Kooths. „Für die Glaubwürdigkeit des EU‐Verfahrens und vor dem Hintergrund der weitreichenden Folgen für die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten ist es daher essenziell, sämtliche Setzungen ausführlich, schlüssig und replizierbar zu begründen.“ Die Forscher empfehlen darüber hinaus bei Änderungen bestimmter Annahmen darüber Auskunft zu geben, wie sich die Produktionslücke bei unveränderten Annahmen entwickelt hätte.

Die Forscher betonen, dass all die Probleme nicht spezifisch für das Verfahren der EU-Kommission sind, sondern vielmehr in unterschiedlichem Ausmaß für alle erprobten Methoden zur Schätzung des Produktionspotenzials gelten. Im Vergleich zu anderen Schätzungen, etwa vom Internationalen Währungsfonds oder der OECD, schneidet das Verfahren der Europäischen Kommission laut Gutachten sogar recht gut ab, da die Revisionen insbesondere für Boomphasen geringer ausfallen.

Die Ergebnisse des Forschungsgutachtens wurden kürzlich in einem Workshop in Berlin vorgestellt, bei dem neben Vertretern aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesfinanzministerium auch Vertreter der EU-Kommission, der OECD, der Europäischen Zentralbank, der Bundesbank und anderer Wirtschaftsforschungsinstitute teilnahmen und die Vorschläge diskutierten. Die Ergebnisse fließen nun in die weiteren Beratungen im Rahmen der mit der Thematik befassten europäischen Expertengremien ein.